Der Löwe

Der Löwe

Stellen sie sich vor, sie wurden für folgendes Szenarium ausgewählt – entweder auf der Straße, in einem Einkaufszentrum oder bei einem Spaziergang im Park: Erfinden Sie eine Geschichte von wenigen Zeilen um die Begriffe Löwe und Ball. Zögern Sie nicht, treten Sie näher, legen Sie los!

Sie fangen begeistert an, zuerst nur in Gedanken, und kommen bei dem Begriff Ball ins Stocken. Ball hat mehrere Bedeutungen, kann mehrere Bedeutungen haben, die durchaus nicht nahe beieinander liegen müssen. Der Ball, der zum Spielen verwendete, der Lederball, der Fußball, der Federball und Ähnliches. Dann aber der Maskenball, der Ball als Tanzereignis, der Abschlussball.

Sie entscheiden sich für den Löwen bei einer Tanzveranstaltung. Überraschend tritt der Löwe als Conférencier auf und kündigt vollendet die nächste Tanzrunde an mit dem Wiener Walzer als Abschluss. Noch wissen die Tanzenden nicht, daß die Absichten des Löwen selbst zwiespältig sind. Er fühlt sich zu den lateinamerikanischen Rhythmen hingezogen, hegt aber eine geheime Liebe für den Wiener Walzer. Außerdem ist er hungrig und vom vegetarischen Angebot aus der Küche wenig angetan. Und auch wenn die Deodorants für menschliche Nasen gute Arbeit verrichten, ist der Schweiß für Löwennasen verführerisch anziehend. Bekannt, auch unter Nicht-Löwen, ist die Anstrengung vieler Tanzender bei der Bewältigung des Wiener Walzers, die zu vermehrter Schweißproduktion führen kann. Könnte unser Löwe, Herr Löwe sagen wir, auf der Jagd sein, leise, unsichtbar nahezu? Obwohl wir, durch endlose Tierfilme aufgeklärten Mitteleuropäer wissen, dass im Löwenrudel der feminine Anteil die Jagd bestreitet, akzeptieren wir den Herrn Löwen in diesem Fall als Jäger, weil er als Einzelgänger (ist gleich Single) unterwegs ist und als Hungriger noch dazu. Für uns ist es nicht allzu schwierig, uns in die Lage des Löwen zu versetzen.

Die letzten Rumba-Takte verklingen im menschenduftverhangenen Ballroom, sanft klingen die ersten Wiener Walzer-Klänge an. Hinter dem Kulissen-Vorhang sitzt, und wie es scheint nachdenklich, der Herr Conférencier Löwe. Doch wie so manches täuscht auch dieses. Er ist nicht nachdenklich. Er hat einen Plan.

Auf der Tanzfläche ordnen sich die Paare entsprechend dem Rhythmus des Walzers in eine Gesamtbewegung ein, nicht alle zwar aber ein Großteil. Und eine wogende Welle weichen Wollens erfüllt den Saal. So bahnt sich auch ein auffallend gut gekleidetes Paar, sie im roten Tanzkleid, er im dunklen Tanzanzug mit einem mit dem Rot korrespondierenden Revers, durchaus elegant seinen Weg durch die dann doch hie und da vorhandenen Hindernisse. Und ein schlanker Herr mit wenigen Haaren bugsiert seine Dame, diese mit einem bemerkenswerten Dekolleté, einigermaßen zielsicher über die Fläche. Als der Walzer endet und die Anstrengung der Paare sich in der Luft des Saales würde messen lassen, Bestandteile des Schweißes und erklärender Worte, leert sich die Tanzfläche allmählich. Unser gut gekleidetes Paar trennt sich kurz, und er geht nach draußen an die frische Luft, um erst durchzuatmen und sich dann, dem widersprechend, eine Zigarette anzuzünden.

Nachdem der Conférencier gegen Ende der Tanzpause nicht wie erwartet erscheint und die neue Runde anmoderiert, beginnt das Orchester selbstständig mit einem Quick Step. Die Dame im roten Tanzkleid wundert sich über den Verbleib ihres Partners und ein Verantwortlicher des Veranstalters beginnt, nach dem Conférencier zu suchen.

Ob die im Nachhinein als etwas hysterisch bezeichnete Tänzerin mittleren Alters richtig liegt, als sie davon berichtet, einen markerschütternden Schrei gehört zu haben, oder dies nur ihrer Überspanntheit zuzurechnen ist, bleibt ungeklärt. Ebenso das Verschwinden des zum Rauchen oder auch zur frischen Luft sich verabschiedenden Tänzers und das Ausbleiben des Conférenciers Löwe. Der Veranstalter betont, der Conférencier habe nicht einmal seine Gage abgeholt, die ihm selbstverständlich zustehe, wenn auch nur bis zum verfrühten, unver-ständlichen Abgang.

Wir bedauern sehr, dass wir uns nicht näher auf die Befindlichkeit des Herrn Löwen einlassen können, muss er sich doch in den vielfältigen Schattierungen des Lichts und der Dunkelheit bewegen, und es ist zu vermuten, dass er oft missverstanden wird und sich deshalb weder da noch dort heimisch fühlt.

Noch könnten Sie den Schluss anders gestalten und z. B. den Conférencier als Tänzer auftreten lassen, wobei wir annehmen müssten, dass seine Tanzpartnerin sich gewissermaßen auf gefährliches Parkett begäbe. Andererseits könnten Sie sich für einen Tennisball entscheiden, der nach einem Mixed-Match aus diesen oder jenen Gründen von seiner Größe her geeignet wäre, sogar bis in ein Schlafzimmer zu rollen, um von dortigen Verwicklungen zu berichten. Oder Sie entscheiden sich für einen Maskenball, bei dem durchaus ein Löwe auftreten könnte oder sogar zwei.