Wegverteidigt

Wegverteidigt

„Er bekommt ihn nicht wegverteidigt.“ – Vielleicht hätte er sich zeitnah darauf fokussieren sollen! – Dieser Satz, der erste, fiel bei der Fußball-WM in Katar 2022 beim Spiel Argentinien – Mexiko, geäußert vom Reporter bzw. Kommentator im deutschen Fernsehen.

So im Nachhinein meine ich, es könnte sich um den Ball gehandelt haben. Denn, angenommen, es hätte sich um einen Stürmer oder einen anderen Spieler der gegnerischen Mannschaft gehandelt, klänge dieser Satz verdächtig. Der Verdacht richtete sich auf die Korrektheit, die politische Korrektheit natürlich, die wie eine Horde Sauen in unsere Sprache getrieben wurde und noch unaufhörlich getrieben wird, die sich nicht entwickelt hat oder aus einer Notwendigkeit entstanden ist. Sollte der Satz grammatikalisch halbwegs richtig sein, so ist er doch ungewohnt, auch unklar, offen gesagt eben sauschlecht und stammt aus dem Schlamm der Gossensprache sehr nahe an der Null-Linie, derjenigen über dem Meer. Er, der Hr. Reporter, meint wahrscheinlich, der Verteidiger hat es nicht geschafft, den Ball wegzuschlagen. Warum sagt er nicht: Er hat den Ball nicht richtig getroffen, oder: Er, der Verteidiger, war zu langsam – für den Ball oder für den gegnerischen Spieler, oder: Er war im Zweikampf nicht durchsetzungsfähig und hat deshalb den Ball verloren, an den Gegner vermutlich und nicht irgendwo in der finsteren Nacht. Alles das sagt er nicht, der Hr. Reporter! Er sagt: Er bekommt ihn nicht wegverteidigt.

Ich gehe nach wie vor davon aus, dass er den Ball meint. Made in Bangladesh, India or China, so nebenbei bemerkt. Die möglichen, oben vorgeschlagenen Aussagen wären zu konkret, sie hätten eine Erfassung dieser durchaus komplexen Situation vorausgesetzt. Sie hätten bedeutet, dass der Fernseh-Zuschauer (= Tele-V-Zuschauer) in die Bedrängnis versetzt worden wäre, sie nachvollziehen zu müssen, zumindest soweit, dass ein Verständnis möglich geworden wäre. Um nun dem Konjunktiv zu entkommen: Wie weit ist so etwas heute noch möglich? Ist jemand, der den an sprachlichen Varianten so reichen Reporter versteht und widerspruchslos hinnimmt, noch satisfaktionsfähig? Wer von beiden, Reporter oder Zuschauer, kann noch zur Verantwortung gezogen werden? D. h. wer kann verantwortlich gemacht werden, falls das überhaupt von der Öffentlichkeit verlangt wird bzw. in irgendeiner Weise im öffentlichen Interesse liegt? Davon abgesehen ist es recht überraschend, wie er den Satz beginnt: Er bekommt ihn ….. Wer bekommt denn was? Die einen bekommen Besuch oder Masern, vielleicht nur einen Schnupfen oder sogar eine Gehaltserhöhung, auch einen Wutanfall oder ein Attest. Alles Dinge, die man sich gewissermaßen einverleibt oder die nahe an den Leib herankommen. Unser Spieler will aber nichts, v. a. nichts nahe bei sich haben. Er will, im Gegenteil, etwas ganz weit von sich haben, z.B. den Ball. Ganz schlechte Wortwahl! Er bekommt tatsächlich nichts. Und das, was er darüber hinaus nicht bekommt, ist das Wegverteidigen. Bekannt ist das Wort verteidigen. Schon die Römer verteidigten sich, und vor den Römern viele andere Stämme, Gruppen oder auch Einzelne, gegen Angriffe von Menschen und Tieren. Es ist zu vermuten, dass z.B. die Römer die Karthager nicht wegverteidigt haben, sondern dass sie sich gegen die Karthager verteidigt haben. Einfach nur verteidigt, Hr. Reporter. Wobei im zitierten Beispiel es anders herum wahrer ist: die Aggressoren waren – mehrfach – die Römer. Verteidigt wurde immer schon neben der eigenen Stadt, dem eigenen Land und Leben, der Ruf, die Meinung oder Behauptung, unglücklicherweise die sogenannte Ehre, auch das Gewissen. Die Lauterkeit, so einen Begriff gab’s mal. Wir wollen uns nicht mit dem „weg“ beschäftigen. Sonst landen wir noch bei „Der Weg ist das Ziel“, einer durchaus widersprüchlichen Aussage. Vorschlag: Dieses „weg“ muss wech! Ohne längere Diskussion. Und wenn wir das wech ham, bleibt verteidigen übrig.

Jetzt könnte es in Newspeak heißen: Er, der Verteidiger, konnte die Situation (hoppla!) nicht verteidigen. Hoppla ist gleich „den Ball“ nicht verteidigen. Da muss man genauer hinschauen. Der Verteidiger (nicht: Wegverteidiger, außer er verteidigt eine Straße, dann aber Weg lang gesprochen) verteidigt nicht den Ball, den will er nicht haben, er will ihn nur ganz weit vom eigenen Tor weg (!) haben. Aha!. Ergo: Der Verteidiger verteidigt nicht den Ball, sondern das (Fußball-)Tor, in dem sein Mannschaftskamerad, der Torwart, steht. Er, nicht der Torwart, verteidigt null und nichts „weg“. Er verhindert, dass der Ball im eigenen Tor landet. So wie die Römer verhinderten, dass die Feinde in die Stadt eindrangen, indem sie die Stadt verteidigten. Damit haben wir das Ergebnis. Gott sei Dank und gottlob konnte das geklärt werden. Bei den nächsten Fußball-Reportagen rufen wir Gott schon vorher fürsorglich an.

[Reporter beim WM-Spiel Argentinien – Mexiko war Gerd Gottlob]