Das Bild

Das Bild

Ein Tag voll milden Sonnenscheins, einige dünne Schleierwolken am Himmel, angenehm warme Temperaturen, so hatte diese Woche im Spätsommer begonnen, unscheinbar und unauffällig. Ein leichter Wind, der in den Pappeln für etwas Unruhe sorgte, aber sonst kaum die Zweige von Büschen und Bäumen bewegte, trug dazu bei, etwas Unbeschwertes in den Tag zu bringen.

Und so war er auch verlaufen bisher. Bei einem Abstecher in die Stadt, der dazu dienen sollte, sie ein bißchen abzulenken, fiel ihr ein, dass sie eine Bluse bräuchte, die zu ihrem jüngst erstandenen dunkelroten Hosenanzug passte. Und sie beschloss, in einer ihr vertrauten Boutique, in der sie fast immer etwas Passendes fand, nach einer Bluse im geeigneten Farbton zu sehen oder vielleicht als letzten Ausweg eine weiße zu kaufen. Dieses Unterfangen erwies sich allerdings als nicht ganz so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, weil keine Bluse im, wie ihr schien, geeigneten Farbton vorhanden war, was eher auf das Diktat der Modefarben als auf die Freiheit des Konsums hindeutete. Weiße Blusen gab es schon, auch zur Genüge, aber der Schnitt der angebotenen Modelle überzeugte sie nicht. So verließ sie nach einiger Zeit die Boutique wieder, um sich auf den Heimweg zu machen, stolperte aber gewissermaßen um die Ecke über die Auslage in einem Schuhgeschäft und erstand nach kurzer Zeit ein Paar dunkelbrauner, halbhoher Sommerschuhe, die bereits im Preis herabgesetzt waren und ihr gut gefielen. Dabei rannte sie normalerweise stundenlang von einem Schuhgeschäft zum andern und konnte sich erst entscheiden, wenn sie durch Ermüdung einer sich in den Vordergrund drängenden Farbe oder Vorliebe keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Danach schlenderte sie die Einkaufspassage entlang Richtung Parkplatz, traf auf dem Wege eine alte, nicht allzu enge Freundin, mit der sie die üblichen Formeln austauschte, woher, wohin, wie es so geht, was der Mann bzw. Partner macht und ob es noch der vom letzten Mal, als man sich traf, war, der schicke Blonde. Der war es zwar nicht mehr, aber das schien keine schicksalhafte Größe auf dem Lebenspfade zu sein. Männer gibt’s ja im Grunde genommen genug, sogar wenn man nur die in Betracht zieht, die für einen selbst in Frage kommen, von Aussehen, Alter, Umgangsformen und Einkommen her gesehen oder einfach die, die grade mal wieder solo sind. Nachdem sie sich dann doch nicht zu einem Kaffee überreden ließ, verabschiedete sie sich, ging zum Auto und fuhr nach Hause.

Sie durchquerte den kleinen Vorgarten, in dem links vom mit feinen hellen Steinchen bestreuten Weg eine reichlich blühende Kletterrose zu bewundern war und auf der rechten Seite ein Rhododendron mit seinen Blüten protzte, stieg die drei Stufen zur Eingangstüre hinauf und betrat das Haus. Dort stellte sie an der Garderobe die Tüte mit den Schuhen ab und begab sich in die Küche, wo sie einen Schluck Wasser trank und sich überlegte, was sie als nächstes tun wollte. Sie ließ ihren Blick über das Geschirr wandern, das in die Spülmaschine einsortiert werden musste, das Regal mit den Gewürzen, eine angebrochene Flasche italienischen Rotweins, die auf dem Fensterbrett stand, den Fußboden, auf dem in einem Körbchen Zwiebeln lagen, und den Kalender neben der Tür, der noch den letzten Monat zeigte mit einem Foto von in ihrer Ruhe erhaben wirkenden Sanddünen. Sahara. Sie ging mit einem halbvollen Glas Wasser in der Hand hinaus auf den Gang, öffnete mit dem Fuß die nur angelehnte Tür zum Wohnzimmer, das sich zu einer kleinen Terrasse auf der rechten Rückseite des Hauses öffnete und links einen Durchgang freiließ zu ihrem Atelier, das mit einer durchgehenden Fensterfront zu beiden Seiten der Hausecke genügend Licht hereinließ für ihre Arbeit. Nur der tragende Pfeiler in der Ecke unterbrach die Einheit von Glas und Licht. Sie sah hinaus in den kleinen, nur wenige Meter breiten Garten, der mit Büschen und einigen höheren Bäumen den Blick zum Nachbargrundstück abschirmte. Gegen Abend fiel die Sonne in diesen Teil des Gartens schräg ein und brachte die typische Färbung des sich langsam verabschiedenden Tages auch hierhin.

Einige Augenblicke lang sah sie hinaus in den Garten und drehte sich dann abrupt zur Staffelei um, wo ein erst vor wenigen Tagen begonnenes, im Zustande weitgehender Unfertigkeit, auch Unklarheit, sich befindendes Bild stand. Wieder fragte sie sich, wie weit, wenn überhaupt, sich ein Bildinhalt verbalisieren ließ, wo doch die Grenzen beider Medien nicht eng beieinander lagen, das eine erst begann, wo das andere längst aufgehört hatte zu wirken. War doch die Lücke, der Abstand zwischen dem mit Wörtern Beschreibbaren und einem visuell Darstellbaren letztendlich unüberwindlich. Die Idee des Bildes, bevor sie mit einer Arbeit begann, musste für sie immer klar sein, auch wenn sich im Laufe der Arbeit diese Inhalte der Grundidee oft verschoben und plötzlich etwas in den Vordergrund brachten, womit sie anfangs nicht gerechnet hatte. In solchen Fällen blieb die ursprüngliche Idee wie eine Art Schatten neben oder hinter dem dann entstandenen Werk vorhanden, nur für sie wahrnehmbar, aber unverlierbar vorhanden. Bei diesem Bild, vor dessen Anfängen sie jetzt stand, war irgend etwas anders als bei früheren Bildern. Etwas noch nicht Identifiziertes war anwesend wie ein Geist im Raum, aber nicht faßbar, nicht sichtbar. Obwohl die Idee, die für sie so wichtig war, um beginnen zu können, noch vor wenigen Tagen klar vor ihrem inneren Auge stand, hatte sich inzwischen eine kaum erkennbare Unschärfe eingeschlichen.

Sie ließ zunächst die Gedanken daran wieder fallen und ging zurück in die Küche, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Etwas, was schnell ging. Also Pasta, aglio et olio, mit ein paar Blättchen Basilikum vom Fensterbrett. Außerdem sollten Nudeln glücklich machen, hatte neulich jemand gesagt, auf Nachfrage einen Unterschied zwischen Hartweizennudel- und Eiernudelwirkung aber nicht näher spezifizieren können. Nudel bleibt Nudel, so die Botschaft, und macht glücklich.

Danach begab sie sich wieder ins Atelier und bereitete alles vor, um am Bild weiterarbeiten zu können. Sie versuchte, sich nochmals ins Gedächtnis zu rufen, was ihr Ausgangspunkt war und daraus entstehend ihre Intention. Sie hatte vor, die Veränderung von einem festen Standpunkt aus hinüber zu einem noch nicht festgelegten Bereich darzustellen, von einer bekannten Seite zu einer unbekannten hin, von einem Geschlossenen hinüber in ein Offenes. Blieb zu klären, ob die Bewegung, die Dynamik als solche herausgearbeitet werden sollte oder eher das Vorher und das Nachher. Sie war sich nicht ganz im Klaren darüber. Eine kurz aufkeimende Vorstellung, die sie schon bei deren Entstehung wieder verworfen hatte, war ein Fluß diagonal durch das Bild mit dem Neuen auf der rechten Bildseite. Zu banal erschien es ihr, obwohl es im Einzelfall auf die Ausführung ankam, das war schon klar. Ausgehend von etwas Festem, Bekanntem: feststehend ein Haus, fest und unumstößlich war eine Mutter für ihr Kind, ein Berg, eine Burg, die Sonne, trotz der scheinbaren Bewegung, die Sterne, für manche Gott. Und das Unbestimmte, Offene: eine flache, weite Landschaft, das Meer, ein Mensch von hinten oder ohne Gesicht, die Dämmerung, der Tod, der nächste Tag, ja, bereits der nächste Tag. Und dazwischen der Übergang: eine Bewegung, eine Verwandlung, ein Verlassen der Heimat, ein Entrinnen aus Erstarrung, der Flug eines Vogels, Erotik, ist Erotik Bewegung?, ein Boot auf dem doch wieder aufgetauchten Fluss, das Gesehene und der Seher. Was trennt den, der etwas ansieht, vom Gesehenen? Der Übergang war für sie noch eher ein weißer Fleck denn eine besiedelte Gegend.

Sie begann, am Festen zu arbeiten, am Bestehenden. Ihr Plan war, mit eher Gegenständlichem zu beginnen und nach und nach das Gegenständliche zu verlassen und zu einem symbolhaft Abstrakten zu gelangen, um damit das noch Unklare und die Richtung der Bewegung auszudrücken. Sie begann zunächst mit einem Haus, einem Wohnhaus, was sie aber schnell wieder aufgab, denn das Haus wurde zu einer Pyramide, einem Dom, einem Hochhaus, die sie so ineinander verschachtelte, daß das eine aus dem anderen herauswuchs und das Dritte schon in sich zu enthalten schien. Der Dom war die größte Herausforderung, so dass sie zwischendurch in einem Nachschlagewerk nachsah, wie die Architektur eines Domes, in diesem Fall des Kölner Domes, genau aussah, um daraus eine einfachere Form abzuleiten und umzusetzen. Nachdem sie ziemlich lange daran gearbeitet hatte, skizzierte sie davor noch die Umrisse einer Frau und eines Kindes, die sie in fast naiver Art darzustellen vorhatte, allerdings mit den Farben nicht in der Nähe des natürlichen Vorbildes bleiben wollte. Damit würde sie weitermachen.

Sie wusch sich die Hände und setzte sich im Wohnzimmer in den Sessel, neben dem auf dem Boden verschiedene Zeitungen und Zeitschriften lagen. Eben hatte sie die Tageszeitung von gestern in die Hand genommen, als das Telefon klingelte. Eine Freundin rief an, rief nach längerer Zeit mal wieder an, was aus langjähriger Erfahrung nur den Grund haben konnte, dass sie mal wieder Probleme mit ihrem Mann hatte und darüber reden wollte. So war es dann letztendlich auch, wenngleich es einige Zeit dauerte, bis sie auf den Punkt kam. In einem gewissen zeitlich oszillierenden Rhythmus kam zum Vorschein, daß sich Ines von ihrem Mann völlig mißverstanden und vernachlässigt fühlte, was dann unweigerlich zu diesen Anrufen führte. Dazwischen, wenn die Beziehung wieder in Ordnung war, hörte sie nichts von Ines. Auf welch wundersame Weise die Beziehung immer wieder in Ordnung kam, konnte sie nie ganz begreifen, es schien ihr aber so, dass die Beziehung trotz dieser Sequenzen mit einem gewissen Anteil an Unglücklichsein im Grunde genommen stabil war. Eine Art Spiel, das niemand genau durchschaute, das aber immer auf ähnliche Weise zu enden schien. In der momentanen Phase glaubte Ines aber, daß sie nie mehr zu ihrem Mann zurückkehren würde, nie mehr in der Lage wäre, ihn zu ertragen und in der Aussichtslosigkeit ihrer Situation ein Weiterexistieren der Welt schlichtweg für unmöglich hielt. Nach einigem Zureden und wiederholten Hinweisen auf vergangene ähnliche Situationen, ließ sie sich dann doch etwas beruhigen und mit einer Verabredung für nächste Woche, wo sie bei einer Tasse Kaffee noch mögliche vorhandene Probleme besprechen wollten, beendeten sie das Gespräch. Nach einem tiefen Atemzug wandte sie sich wieder ihrer Zeitung zu.

Erst zwei Tage später beschäftigte sie sich erneut mit ihrem Bild. Als sie einen kurzen Blick darauf warf, schien es ihr, als sähe die Frau sie an. Irritiert sah sie genauer hin um sich zu erinnern und festzustellen, dass sie die Person nur angedeutet hatte und das Gesicht noch leer war. Trotzdem hatte dieser Moment genügt, in ihr ein eigenartiges Gefühl von Unwirklichkeit hervorzurufen, das aber bald durch die Beschäftigung mit den weiteren Bildinhalten überlagert wurde und schließlich verschwand. Einer spontanen Imagination folgend, suchte sie mit raschem Pinselstrich das aufgetauchte Bild festzuhalten, bevor es sich durch den Automatismus der unfreiwilligen Reflexionen entstellte. In relativ kurzer Zeit belebte sie die noch leere Fläche vom bereits Angefangenen aus in einer Uhrzeigerbewegung bis unten in die Mitte des Bildes, mit einer zurückhaltenden, dunklen Farbenfolge beginnend, einer Art Landschaft, ohne konkret zu sein, Gefüge und Schichtung. Zur rechten unteren Diagonale hin ging diese Landschaft über in einen helleren ruhigen Sandton. Schließlich füllte sie die übrige, noch nicht bearbeitete Fläche mit einer etwas geänderten Farbe, einer Art Grundierung, um für sich selbst anzuzeigen, dass hier noch etwas eingefügt werden musste.

Mit einer gewissen Zufriedenheit legte sie die Malutensilien beiseite und gönnte sich ein Glas Rotwein auf ihrer Terrasse. Wie eine kleine Sonne breitete sich bereits nach den ersten Schlucken eine wohlig entspannende Wärme in ihr aus, um von den Fingerspitzen und Zehen zurückzufluten in ein Zentrum irgendwo in ihrer vermuteten Mitte. Etwas fiel von ihr ab, eine körperliche Anspannung, die sie vorher nicht richtig wahrgenommen hatte, eine nicht näher zu bestimmende geistige Justierung, und ließ eine angenehme Müdigkeit zurück. Jetzt nicht allein sein. Jetzt jemanden spüren. Jetzt ganz zu Hause sein. Sie überlegte, wie sie erreichen konnte, wonach sie sich sehnte, und ihre Gedanken flossen, etwas träge zwar, aber zielgerichtet, zu den beiden Männern, die in Frage kamen. Unschlüssig, wen von beiden sie anrufen sollte, wälzte sie eher Erinnerungen als Gedanken, die mit den Objekten ihrer Begierde verbunden waren. Gott sei es gedankt, dass es auch Männer gibt, die tagsüber zu ihrer Geliebten gehen. Dabei fiel ihr ein, was Kesten über den römischen Mann sinngemäß gesagt bzw. geschrieben hat, dass er nämlich, bevor er in die Arme seiner Geliebten eilt, in einem der kleinen Straßencafes einen Kaffee trinkt, wogegen der Engländer einen starken Whiskey benötigt. Ihr Gefühl neigte sich während eines kurzen Abwägens P. zu, und sie beschloss, ihn anzurufen. Das Abwägen betraf im Wesentlichen die Wahrscheinlichkeit, daß er erreichbar war und vorbeikommen konnte. Er war selbständig und daher leichter abkömmlich, außerdem war er schon das eine oder andere Mal tagsüber kurz bei ihr gewesen, selten zwar, sehr selten, aber immerhin, und er hatte sein Geschäft nicht allzuweit entfernt. Sie wählte seine Nummer, und als sie seine Stimme hörte, sagte sie: Hier ist M., kannst du vorbeikommen? Einen ausgedehnten Moment lang sagte er nichts, sie hörte nur die Geräusche im Hintergrund. Sie: Hallo. Meinst du jetzt, sofort, fragte er. Ja, jetzt. Kurze Pause. O.k., ich fahre zu dir rüber, bin in zwanzig Minuten da. Gut, sie legte auf. Es hat Vorteile, wenn man sich etwas besser kennt. Manchmal entfallen allzu überflüssige und störende Erklärungen oder Hemmnisse, und das Wesentliche kommt zum Zuge. Sie trank das Glas leer und schenkte sich noch ein halbes ein. Sie freute sich auf P., er war angenehm, und sie dachte an „du bist min, ich bin din, des solt du gewis sin“ und „ich werde dein sein“, dachte sie in die nächste Zukunft voraus. Bereits nach einer viertel Stunde klingelte es, und er war da, lehnte ein Glas Rotwein ab, küsste sie kräftig auf den Mund, und sie stiegen sofort die Treppe nach oben ins Schlafzimmer. Sie zogen sich getrennt aus, jeder für sich, und schlüpften halb unter die Bettdecke. Ihre Zungen trafen sich zwischen Rotwein und Kaffee, ihre Hände suchten den anderen Körper und fühlten und griffen alle erreichbaren Gegenden, als ob heute alles neu wäre und kein Gestern. Auch ihr kleiner Verdacht, dass er nicht viel Zeit hätte, störte sie nicht, und sie ließ ihn gewähren und genoss ihn, von Bacchus unterstützt. Und in dem nicht näher bestimmbaren Raum, in dem die Zeit in sich zusammenstürzt und bedeutungslos ist, sah sie Bilder und eine Menschenmenge und Gesichter, die klar wurden, und darunter das Gesicht dieser Frau vor der Pyramide, das fremd war und starr, und den hellen Himmel, darin sie sich verlor. Sie spürte seinen schweren Atem und seinen Körper, und wie er sich zur Seite drehte und neben ihr lag, die Hand auf ihrem Oberschenkel, warm. Ihr Körper folgte ihm, und sie schmiegte sich so eng an ihn, wie es möglich war, um ihn zu spüren, zu fühlen, zu halten. Nach einigen Minuten löste er sich von ihr, sagte im Aufstehen, er müsse wieder gehen, kleidete sich an und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, sagte, er wisse schon, wie er hinauskomme. Sie zog die Decke über sich und fühlte die Wärme und sog ihren gemeinsamen Geruch ein. Sie schloss die Augen, um noch ein bißchen vor sich hinzudösen.

Bevor sie erneut die Arbeit an dem Bild aufnahm, benötigte sie erst eine gute halbe Stunde, während der sie vor der Staffelei auf und ab ging, um sich über die nächsten Schritte klar zu werden. Auf einer Fläche von einem mal einem Meter konnte man eben nicht die ganze Welt darstellen, sondern man mußte eine harte Auswahl treffen, und oft musste man sogar auf die Dinge verzichten, die einem nahezu unverzichtbar erschienen, und dennoch sollte ein abgegrenztes Ganzes entstehen und entstand auch immer wieder. In ihrer Vorstellung sah sie die Übergangszone weitgehend klar vor sich und ging daran, diese Vorstellung umzusetzen. In der links-rechts Diagonalen unten beginnend eine Urwald- oder Dschungellandschaft, das Unübersichtliche, Undurchdringliche, sich fortsetzend nach rechts oben bis zum Kargen, Wüstenhaften. So wuchs eine tropische Urlandschaft heran, angedeutet ein Gewässer, bedeckte bald die Hälfte der diagonalen Linie und musste gebremst werden, um nicht nach beiden Seiten hin fast alles zu überwuchern. Der Diagonalen folgend ging der Urwald, wenn man es so interpretieren wollte, in ein  Stückchen Steppe über und dann in eine harte, trostlose Ebene. Am Ende des Urwaldes noch eine nur schwach angedeutete Ruine, ein Bruchstück eines behauenen Steines, eines Architravs, mit einer nur andeutungsweise entzifferbaren Inschrift: „ubi“ oder auch „ubique“. In dem unübersichtlichen, strauch- und baumbedeckten Areal versuchte sie mit ganz feinem Strich Symbole des Erotischen zu verstecken, so daß sie kaum zu entdecken waren, jedenfalls nicht auf den ersten oder zweiten Blick, aber als Botschaft dennoch vorhanden waren. Eher schelmenhaft war ihre Idee, in dem beinahe undurchdringlichen Dickicht aus Strich und Farbe noch die Augen eines Krokodils zu verstecken und das eine Auge mit Wimpern zu versehen. Sie wollte eben ihre Arbeit beenden, da fiel in einer Koinzidenz des Sehens und Erinnerns ihr das Gesicht dieser Frau wieder ein und ihr Blick genau auf das Gesicht in ihrem Bild. Augenblickslang sah sie das Gesicht auf der Leinwand, und in ihrer Magengegend stimmte etwas nicht mehr. Bei einem zweiten Hinsehen war nur noch das leere Gesicht da, und spontan bemalte sie das Gesicht mit einer dunkelblauen Farbe und mit einem noch dunkleren Blau, als Striche nur, angedeutet die Gesichtspartien, rasch, hastig, es sollte erledigt sein. Und nahezu überstürzt verließ sie ihr Atelier.

Nach einigem Suchen und nachdem sie einen alten Mann auf der Straße nach der Adresse gefragt hatte, fand sie das Anwesen und betrat durch ein mit einem Bogen überwölbtes Tor den Hof. Dieser lag im harten Glast der Nachmittagshitze, gänzlich mit Kopfsteinpflaster bedeckt, in der Mitte ein Ziehbrunnen, überdacht. Nur an zwei Seiten zog sich unter den ein Stück vorkragenden Dächern der dunkle Streifen eines Schattens entlang, auf einer Steinbank im Halbschatten eine Frau, abgewandt, mit Bewegungen, die ahnen ließen, dass sie Essen vorbereitete. Ihr war heiß, und sie hatte Durst. Als sie sich dem Brunnen, auf dessen Rand eine Trinkschale stand, zuwenden wollte, gewahrte sie einen Hund, den sie bisher nicht hatte sehen können, weil er hinter dem Brunnen gelegen hatte, und der sich knurrend erhob und sie Zwang, in ihrer Bewegung innezuhalten. Sie sah zu der Frau hinüber, die zu ihrer Verwunderung ihre neuen Schuhe trug und sich jetzt fast ganz zu ihr herumgedreht hatte. Da erkannte sie die Frau vor der Pyramide, abweisend und fremd, und sie konnte sich nicht erinnern, warum sie hier war und sah sich hilfesuchend um. Auf der entfernten Seite des Hofes trat eine dunkel gekleidete Frau aus einer Tür, sah herüber, und verschwand durch eine andere Tür wieder in dem Gebäude. Ihre Mutter? Hatte sie sich getäuscht? Der Hund hatte sich aufgerichtet, glich eher einer Hyäne, fletschte die Zähne und beobachtete sie, wie sie wahrzunehmen glaubte, mit schönen, eher zutraulichen Augen. Sie blickte ratsuchend zu dieser Frau hinüber, die in einer Sprache etwas sagte, die sie nicht verstand und nie vorher gehört hatte. Ihre Angst wuchs. Die Hyäne bewegte sich langsam in Lauer- und Angriffshaltung auf sie zu. Die eine Hand in Richtung dieser Frau ausstreckend und sich nach ihr umblickend, konnte sie nur noch feststellen, daß diese verschwunden war. In diesem Moment griff die Hyäne sie mit geifernden Reißzähnen in tödlichem Sprung an, dem sie mit einem taumelnden Rückwärtsschritt, die Arme schützend hochgerissen, zu entkommen suchte. Entsetzt schreckte sie hoch, ihr Herz raste.

Als sie das nächste Mal am Bild weiterarbeiten wollte, musste sie im Vorfeld erst ein beklemmendes Gefühl überwinden, das aber, als sie vor dem Bild stand, völlig in den Hintergrund trat. So wie die ganz guten Schachspieler sich instinktiv nur auf das Gebiet auf dem Schachbrett konzentrieren, auf dem die Entscheidung fällt, konzentrierte sie sich auf die rechte untere Fläche, auf der sie Hinweise, Symbole für das Offene, noch nicht Festgelegte darstellen wollte. In einer weiten Ebene, spärlich bewachsen, ein kleines Kind, das noch nicht laufen konnte, sitzend, das nach etwas griff, das im Sand lag, nach etwas griff wie nach einem Spielzeug. Dieses Etwas entpuppte sich als Spirale, konnte aber auch als Spiralnebel verstanden werden, unzählige Welten in der Hand eines Kindes. Zum rechten Horizont hin versperrte eine Art Düne den Blick, und die Farben liefen sich im nicht Einsehbaren in einem dämmrigen Dunkel aus, in dem das Unbekannte wohnen mochte. Sie versuchte, das Kind halb und den spiralförmigen Gegenstand ganz in Licht zu tauchen, ein freundliches, liebevolles Licht, ein Herausheben dieses Wesentlichen zu erreichen, so wie Rembrandt das Licht eingesetzt hatte, auch wenn er gänzlich andere Themen in einer anderen Zeit behandelt hatte. Dies gelang ihr anfangs nicht, und sie benötigte mehrere langwierige Anläufe, bis sie ein halbwegs zufriedenstellendes Ergebnis erreichte. Im Anschluss daran beschäftigte sie sich noch eingehend mit den Übergängen von dem, was sie selbst Übergangszone nannte, zu den umliegenden Gebieten, wobei diese Kleinarbeiten nicht nur besonders viel Zeit beanspruchten, sondern letztendlich auch einen wesentlichen Anteil daran hatten, ob ein Bild als gelungen bezeichnet werden konnte oder den letzten Qualitätsansprüchen dann doch nur bedingt entsprach. Nachdem sie diese Arbeitsphase beendet hatte, ließ sie das Bild erst einmal auf der Staffelei stehen und nahm es einige Stunden später herunter, um es hinten gegen die Wand zu stellen, wo sie es einige Zeit ruhen lassen wollte. Ein anderes Bild stellte sie aber noch nicht auf die Staffelei, weil sie noch nicht genau wußte, woran sie sich als nächstes wagen wollte.

In einer der folgenden Nächte wachte sie aus einem Traum auf, in dem sie verfolgt wurde und Zuflucht in einem Raum gefunden hatte, dessen Tür sie rechtzeitig zusperren konnte, aber aus dem sie zumindest nicht sofort einen Fluchtweg fand. Unterdessen schlugen der oder die Verfolger mit Macht gegen die Tür, die jeden Moment nachgeben musste. Bevor das geschah, rettete sie aber das Aufwachen vor schlimmeren Szenen, und als sie endlich die Räume von Traum und Wachheit unterscheiden konnte, glaubte sie, irgendwelche Geräusche zu hören. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, versuchte, sich ganz still zu verhalten, hielt den Atem an. Tatsächlich vernahm sie etwas wie Klopfgeräusche, danach Schritte, Stille, wieder Schritte. Das kam eindeutig von unten. Einbrecher? Ihr ganzer Körper war sofort in Alarmbereitschaft. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und öffnete sie leise. Gleichzeitig ergriff sie einen Baseballschläger, der ein Stück neben dem Bett seit Jahren nutzlos in einer Ecke lehnte. Sie hörte eine Stimme etwas sagen, hörte nicht näher zu bestimmende Geräusche und bewegte sich so lautlos wie möglich die Treppe hinunter. Aus dem Wohnzimmer drang ein ganz schwaches Dämmerlicht, wie ihr schien. Vor der Wohnzimmertür verharrte sie einen Moment, riss in einer konzentrierten Überraschungsaktion zugleich die Tür auf, schlug mit einer Hand auf den Lichtschalter, so dass das Licht anging, in der anderen hielt sie schlagbereit den Baseballschläger, und schrie gleichzeitig mit äußerster Entschlossenheit: Stehenbleiben! Keine Bewegung! Stürmte ins Wohnzimmer, wo sie niemanden sah, und gleich weiter ins Atelier, aus dem ein dumpfer Ton drang, machte schnell das Licht an und – niemand da. Sie nutzte den Schwung aus, durchsuchte das ganze Erdgeschoß, kontrollierte Haustüre und Kellertüre, beide verschlossen, und die Fenster. Etwas ruhiger kehrte sie ins Atelier zurück. Da fiel ihr auf, daß das Bild auf einem anderen Platz stand, als auf dem, an dem sie es abgestellt hatte. Sie war sich absolut sicher. Außerdem hatte sie es zur Wand hin aufgestellt, und jetzt war es herumgedreht. Und als ihre Augen das Bild überflogen, bemerkte sie die schmalen Augen dieser Frau und den Blick daraus. Erst jetzt erschrak sie bis ins Mark. Das war schrecklicher als Einbrecher hätten sein können. Woher kamen diese Augen? Litt sie an Halluzinationen oder psychotischen Störungen? Was war nur los seit einiger Zeit? Sie faßte nichts an, ließ das Licht an, ging nach oben, völlig erschöpft. Während sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie drei Mal den Schrei einer Eule, obwohl sie nicht hätte sagen können, woher sie den Schrei einer Eule kannte. Sie hielt nur kurz inne, warf sich oben auf ihr Bett, voller Unruhe. Die nächsten Stunden bis zum Anbruch des Morgens durchlitt sie mehr als dass sie schlafen konnte; nur ein sporadischer Halbschlaf war ihr möglich, aus dem sie aber immer wieder hochschreckte.

Als es draußen heller zu werden begann, stand sie auf und fuhr, nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken hatte, mit dem Auto zum nächstgelegenen Park, wo sie bei einem Spaziergang auf klare Gedanken hoffte. Denn mehr innere Ruhe und einen klareren Kopf hatte sie nötig, um sich einerseits dem zu nähern, was da passierte, und andererseits zu überlegen, was sie weiterhin mit dem Bild machen sollte. Um diese frühe Zeit war nur ein älterer Herr mit seinem Hündchen unterwegs und auf dem Rasen hüpfend und suchend die ersten Vögel, die ihren Tag begannen. Stellenweise hüllte ein frühherbstlicher Dunstschleier, der knapp über dem Boden schwebte, das Grün des Rasens ein, und immer wieder segelte ein Blatt zu Boden, Zeichen und Handschlag des beginnenden Herbstes. Sie konnte, als einfache Lösung, das Bild zerstören und endgültig entsorgen, wie man heute zum Wegwerfen sagte, um so das ihr nicht Geheure loszuwerden. Dieser Gedanke missfiel ihr, weil sie eine Hemmung hatte, etwas von ihr Geschaffenes, auch wenn es noch nicht völlig fertig war, einfach zu vernichten. Letztendlich war natürlich fraglich, ob dadurch der äußerst beunruhigende Geist, der mit dem Bild entstanden war, auch verschwand, böser Geist wollte sie nicht sagen, denn es war ja nichts wirklich Böses passiert. Und wie, wenn alles nur in ihrer Phantasie geschehen war? Nein, der Zusammenhang zwischen den eigenartigen Ereignissen und dem Entstehen dieses Bildes schien ihr zu evident. Sie konnte das Bild aber auch jemandem schenken, in der Hoffnung, damit auch das unerklärliche Geschehen loszuwerden. Nur, wem schenkte man guten Gewissens ein solches Bild, hoffend, die Geister würden sich zurückziehen. Vielleicht wäre es ein geeignetes Objekt für das Rathaus, denn ob den kommunalen Geistern jeglicher Couleur ein irgend gearteter neuer hinzugefügt würde, fiele wohl kaum auf.

Sie könnte aber auch noch die letzten Arbeiten daran beenden, zügig beenden, und es danach weggeben oder lagern. Der Gedanke gefiel ihr, und sie überlegte, was sie noch ergänzen, ändern wollte, und wo sie ihre Signatur verstecken wollte, was für sie immer ein kleines Spiel bedeutete. Denn sie wußte bis zum Schluss nie genau, ob sie mit einem kleinen tuschegezeichneten Kolibri, der hier gut im Dschungel zu verstecken wäre, oder einer stilisierten Rose signieren würde. Wenn das Bild soweit fertig wäre, könnte sie es vorläufig auch im Keller in der hintersten Ecke deponieren und die Kellertüre zweimal abschließen. Auch für geistige Phänomene musste es ja so was wie Grenzen geben.

Inzwischen war die Sonne rot im morgendlichen Dunst bis in die Äste der Bäume am anderen Ende des Parks gestiegen, das untere Drittel noch von einem fahlen Grau überzogen, der obere Rand schon flirrend im satten Rot, das bald in ein helles Gelb übergehen würde, das die Augen nicht mehr ertrugen. Mit dem Vorsatz, die Arbeit noch zu einem Abschluss zu bringen, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Die Leute waren bereits auf den Beinen, holten Brötchen vom Bäcker oder fuhren zur Arbeit. Ein Stück die Straße abwärts verstaute jemand ein sperriges Stück in einem größeren dunklen Wagen. Sie holte sich erst ein paar Brötchen vom Bäcker gegenüber, bevor sie das Haus betrat. Als sie die Haustüre öffnete, spürte sie einen stärkeren Luftzug und hörte gleich darauf, wie ein Fenster zuschlug. Hatte sie vergessen, ein Fenster zu schließen? Sie ging ins Wohnzimmer und stellte fest, dass die Terrassentüre nicht geschlossen war. Sie warf einen Blick ins Atelier und sah sofort, dass das Bild verschwunden war. Oder hatte es sich selbständig gemacht? Der dunkle Wagen! Sie rannte auf die Straße, aber da war kein dunkler Wagen mehr zu sehen. Sie ging zurück ins Haus, schaute noch mal in alle Ecken, das Bild blieb verschwunden. Sie prüfte die Terrassentür, deren Schloss zwar funktionierte, das aber nur noch auffallend schlecht in seiner Befestigung verankert war. Polizei? Nein. Sie trat auf die Terrasse, atmete tief ein und hatte den Wunsch, mit nichts verbunden zu sein. Der stärker aufkommende Wind wühlte in den Bäumen und Büschen, im Gras und auf der Terrasse sammelten sich die herbstlich verfärbten Blätter, eine Amsel sah sie aufmerksam an, und die Sonne ließ die Blätter in den Baumkronen hell aufleuchten. Es schien ein schöner, freundlicher Tag zu werden.